Wandel von Liebesbeziehungen und Sexualität

Silja Matthiesen, die Autorin der Dissertation. auf die hier Bezug genommen wird, ist Soziologin und Forschungsleiterin am Institut für Sexual­forschung und Forensische Psychiatrie des Universitätsklinikums Hamburg-Eppendorf. Sie hat sich mit der Veränderung von Beziehungsbiografien und damit einhergehend natürlich auch mit der Veränderung der Sexualität in einer empirischen Untersuchung beschäftigt. Die Arbeit stützt sich auf 776 (!!) standartsierte Interviews mit Angehörigen der Geburtsjahrgänge 1942, 1957 und 1972 aus den Städten Hamburg und Leipzig. Darüberhinaus sind die Ergebnisse von 12 qualitativen Interviews mit Angehörigen des Geburtsjahrganges 1942 in die Untersuchung eingegangen.

Die Autorin leistet in ihrer wissenschaftlich geprägten Arbeit, die gleichwohl auch für interessierte Nicht-Wissenschaftler*innen lesenswert ist, eine Integration sexualwissenschaftlicher und familiensoziologischer Fragestellungen. Durch die Betrachtung der Generationen im Längsschnitt gelingt ihr die Erweiterung des häufig noch stark auf die Ehe eingeengten Fokus einer Vielzahl anderer familiensoziologischer Arbeiten.

Gerahmt und strukturiert wird die Empirie durch ausführliche theoretische – und das heißt hier vor allem: individualisierungstheoretisch inspirierte – Überlegungen zum Wandel von Biografie, Sexualität, Intimität und privaten Lebensformen, die ein eigenes Kapitel füllen.

Die empirischen Ergebnisse sind vielgestaltig und können hier nicht ohne unanagemessene Vergrößerung zusammengefasst werden. Statt dessen möchte ich auf eine Rezension verweisen, die 2009 in der Zeitschrift psychosozial erschienen ist und hier nachgelesen werden kann. Die Rezensentin Renate Ruhne hebt u.a. hervor,dass “ die zunehmende »Seriellität und Diskontinuität (von Beziehungsbiographien) nicht darüber hinwegtäuschen (sollte), dass der Wunsch nach dauerhaften, ja lebenslangen Beziehungen nach wie vor hoch ist« (S. 203).“ Die Bedeutung der Treue ändert sich, wenn das Leben statt in Dauerbeziehung eher in einer Serie von unterschiedlichen Beziehungen gelebt wird.

Trotz des Wandels der Partnerschaftsbiografien kommt Matthiesen zu dem Ergeb is, dass „die Tendenz, Sexualität fast ausschließlich in festen Beziehungen zu organisieren, (sich) nicht verändert« (S. 266) hat. Verändert hat sich jedoch die Bedeutung der Sexualität im Kontext von Beziehungen. Partnerschaften gründen heute »immer stärker auf emotionalem Austausch, sexueller Leidenschaft und erotischer Attraktivität« (S. 267).

Matthiesen fast ihre Untersuchungsergebnisse in acht Thesen zusammen:

  1. Vielfalt entsteht durch die Vielfalt von Bedeutungen.
  2. Von der Solidarität mit Anderen zur Solidarität mit sich selbst.
  3. Diskontinuierliche Partnerschaftsbiografien entstehen nicht aufgrund der Pluralisierung sexueller Verhaltensoptionen.
  4. Serialität und Diskontinuität sind die herausragenden Merkmale der Partnerschaftsbiografien im jungen Erwachsenenalter.
  5. Der Trend geht nicht zur Singlegesellschaft, sondern zum Fluktuationssingle.
  6. Neue Normalität: Beziehungsqualität wird wichtiger als Dauerhaftigkeit und Stabilität.
  7. Spätmoderne Partnerschaftsbiografien durchlaufen drei Phasen: Im jungen Erwachsenenalter dominiert das Ideal der seriellen „reinen Beziehung“; im mittleren Erwachsenenalter und mit dem Übergang zur Elternschaft werden vermehrt Ehen (oder eheähnliche private Lebensarrangements) geschlossen; im hohen Erwachsenenalter verändert sich die Binnenlogik von Beziehungen noch einmal, sie orientiert sich erneut am Ideal der „reinen Beziehung“.
  8. Geschlechtergleichheit ist unter den gegenwärtigen Bedingungen vor allem in der Phase des jungen Erwachsenenalters realisiert.

Silja Matthiesen: Wandel von Liebesbeziehungen und Sexualität. Empirische und theoretische Analysen. Psychosozial-Verlag, Gießen 2007
Buchreihe: Beiträge zur Sexualforschung.
344 Seiten, Broschur, 148 x 210 mm
ISBN-13: 978-3-8980-6578-8, Preis: 32,90 €